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  • AutorenbildAdrian Göldner

Selbstmitgefühl erlernen und den inneren Kritiker zum Schweigen bringen

Aktualisiert: 2. Juli 2021


Mitgefühl und Selbstkritik

Ein einfühlsamer, konstruktiver Umgang mit deinen Problemen.



Der moderne westliche Mensch gilt als eigensinnig und selbstsüchtig. Er sei ständig nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Da mag vieles dran sein, aber dieses Narrativ hat auch eine Kehrseite: Die meisten von uns gehen äußerst hart mit sich selbst ins Gericht.

Wir geißeln uns für unsere Fehler. Wir setzen uns oft schier unerreichbare Maßstäbe und machen uns selbst nieder, wenn wir ihnen nicht gerecht werden. Wir reden uns ein, wir seien nicht gut so, wie wir sind. Das führt zu Minderwertigkeitsgefühlen und häufig zu psychischen Leiden. Woher kommt diese ungesunde Selbstkritik? Und wie können wir liebevoller und konstruktiver mit unseren Problemen umgehen? 

Dieser Blogbeitrag liefert dir die Antwort auf diese Fragen. Er ist ein ganzheitlicher Fahrplan zu einem achtsameren Umgang mit dir selbst.

Du lernst gleich,

-> warum Selbstkritik kein gesunder Antrieb zur Veränderung ist

-> wie dir Selbstmitgefühl beim Lösen von Problemen hilft

-> und warum es uns schwer fällt, uns selbst zu trösten.


 

Kleine Vorab-Info: Ich plane einen kleinen Workshop zum Thema /Mitgefühl - Meditation/ Wenn dich das Thema interessiert, beantworte mir doch gerne kurz diese 2 Fragen: https://forms.gle/AV7HLoKdbnduC8496

 

Ein Hang zu strengen Selbstkritik hat seine Wurzeln oft in der Kindheit




Deine Psyche ist angeknackst? Dann liegt die Wurzel deines Problems in deiner Kindheit und am Ende sind ohnehin deine Eltern schuld. So oder so ähnlich machen wir uns über die psychologische Vergangenheitsbewältigung lustig. Aber in den Bereichen Selbstkritik und Minderwertigkeitsgefühle hat sie tatsächlich ihre Berechtigung.


Die Forschung zeigt, dass wir im Alter umso stärker zur Selbstkritik neigen, je mehr wir als Kinder schon kritisiert wurden. Das ergibt Sinn: Unsere Eltern sind die Fixsterne unserer Kindheit. Sie weisen uns die ersten Wege durch die Tücken des Lebens. Sie erklären uns die Welt und spenden Zuwendung, Trost und Schutz. Darum vertrauen wir von Natur aus ihrem Urteil. Unser kindlicher Selbstwert wird durch ihre Bestätigung geprägt.


Kein Wunder also, dass kritische Eltern selbstkritische Kinder großziehen. Stell dir vor, du bist noch klein und wirst von deinen Eltern für nahezu jede Handlung gerüffelt - von deinen Tischmanieren bis zur Wahl deiner Garderobe für die Schule. Stell dir vor, sie verknüpfen ihre Rügen mit abfälligen Bemerkungen. Sie nennen dich “dumm”, wenn du an der Straße nicht nach links oder rechts siehst oder andere Fehler begehst.

Mit der Zeit graben sich diese Erfahrungen wie stete Tropfen in den Stein deines jungen Selbstwertes. Die ständige Kritik führt schließlich zu der Überzeugung: “Ich bin nicht in Ordnung. Ich muss besser werden. Erst wenn ich perfekt bin, bin ich die Liebe meines Umfelds wert.”


Du spürst also, wie sehr dir die vernichtenden Urteile deiner Eltern zusetzen. Darum willst du ihnen so oft wie möglich entkommen und entwickelst Schutzmechanismen. Eine Strategie besteht darin, ihre Kritik vorwegzunehmen. Du kritisierst dich selbst, bevor du ihnen die Chance dazu lässt. Du hoffst, dass du dein Verhalten rechtzeitig korrigierst und von ihrer Ablehnung verschont bleibst.


Wenn es so weit ist, dann hast du die Kritik deiner Eltern internalisiert. Die rügenden Worte deiner Eltern gehören jetzt zum Standardvokabular deiner inneren Stimme. Dir muss nur ein Glas aus der Hand fallen und schon kritisiert sie dich mit einem harschen “Trottel” oder “Nichtsnutz” für dein unbeholfenes Verhalten.

Wozu das alles führt? Zu einem tief sitzenden Hang zur harschen Selbstkritik und starken Minderwertigkeitsgefühlen, die viele Menschen bis ins Erwachsenenalter mit sich tragen.


 

Ein kompetitives soziales Umfeld trägt zu Selbstkritik und Minderwertigkeitsgefühlen bei




Also sind Mama und Papa doch an Allem Schuld? Nein, so einfach ist das natürlich nicht. Erstens besteht das nahe Umfeld eines Kindes aus vielen Personen, also auch Geschwistern, Lehrkräften, Trainern oder Verwandten. Sie alle können mit ihrem Verhalten dazu beitragen, dass wir später hart zu uns selbst sind.


Zweitens wird unser Selbstbezug auch durch soziale Werte geprägt. Der globale Westen wird von individualistischen Gesellschaften dominiert. Hier herrscht ein Leistungsdenken, das die Mitglieder der Gemeinschaft gegeneinander ausspielt. Anerkennung erfahren die Menschen, die sich vom Rest der Masse abheben. Unsere Kultur belohnt die Personen, die über dem Durchschnitt stehen – und im Idealfall ganz oben auf der Treppe.


Das Problem ist nur, dass wir nicht alle gleichzeitig über dem Durchschnitt stehen können. Und je höher wir die Treppe hinaufsteigen, desto begehrter werden die Plätze. Die logische Folge ist das eingefleischte Konkurrenzdenken. Das Leben gerät zu einem ständigen Kampf um knappe Ressourcen, bei dem wir uns gegen alle anderen behaupten müssen.


Um unseren Erfolg zu messen, vergleichen wir uns mit unseren Mitmenschen. Der Neid ist der Tiger im Tank unseres Ehrgeizmotors. Gleichzeitig messen wir uns streng an den gesellschaftlichen Erfolgsstandards, vom materiellen Erfolg bis zur körperlichen Attraktivität.

Je besser wir bei diesen Messungen abschneiden, desto zufriedener dürfen wir mit uns sein. Unser Selbstwert verkommt zu einer Leistungskennzahl.


Und jetzt kommt die Krux: So bleiben wir auf ewig unzufrieden. Wir werden niemals in allem der oder die Beste sein. Wir werden niemals auf der Treppe unseres inneren Treppchens stehen.

Egal ob du dich mit einer erfolgreichen Unternehmerin mit schickem Haus und teurem Auto misst, dem durchtrainierten Fitnessmodel auf der Zeitschrift oder einfach deinem Nachbarn – es wird immer Personen geben, die erfolgreicher, attraktiver, intelligenter, talentierter, eleganter oder interessanter sind als Du.


Wie sehr du dich auch für eine Sache ins Zeug legst – Da ist theoretisch immer noch Luft nach oben.

Solange wir unser Selbstwertgefühl an den Vergleich mit anderen Menschen oder (vermeintlich) gesellschaftlichen Standards knüpfen, werden wir niemals zufrieden sein. Es wird immer eine Lücke geben, die die Besseren von uns trennt. Es wird immer etwas geben, das wir an uns kritisieren können.


Dabei ist es doch genau diese Lücke, die uns zu Menschen macht.

Wir sind nicht perfekt. 


Wir haben alle Schwächen.


Und überleg dir mal wie schön es eigentlich ist, dass es immer noch etwas zu lernen und entdecken gibt.


 

Selbstkritik kann ein Stück weit motivieren, aber der Preis dafür ist hoch.




Wenn du an Selbstoptimierung glaubst, bist du jetzt womöglich skeptisch. Du könntest sagen: “Gut, vielleicht können die Erlebnisse in der Kindheit wirklich zu überzogener Selbstkritik und Minderwertigkeitsgefühlen führen. Aber hat die Luft nach oben nicht auch etwas Gutes? Hält sie uns nicht davon ab, uns auf unseren Lorbeeren auszuruhen? Treibt sie nicht zur Selbstverbesserung an?”


Ja und Nein. Selbstkritik kann tatsächlich bis zu einem gewissen Grad motivieren. Aber die Quelle dieses Antriebs ist Schmerz. Wir haben gesehen, dass Selbstkritik oft mit hässlichen Urteilen und Abwertungen verknüpft ist. Stell dir vor, du bist hochgradig selbstkritisch und kommst zu spät zu einem Termin. Dann geißelst du dich möglicherweise mit harten Worten wie: “Ich bin ein totaler Versager. Ich bekomme nicht einmal die einfachsten Dinge hin.”


Solche Worte tun weh. Darum versuchst du dich vor ihnen zu schützen. Also stellst du dir beim nächsten Mal einen Wecker auf dem Handy. So gesehen, kann uns die Selbstkritik zu durchaus zu Verbesserung anspornen – aber nur, weil wir uns vor ihrem schmerzhaften Urteil fürchten. Das ist wichtig, wenn wir über Angst, als Motivator sprechen. Angst hat nämliche eine ganze Reihe von Nebenwirkungen.


Zunächst einmal macht sie dich nervös, was wiederum deine Erfolgsaussichten schmälert. Angenommen du bist Theaterschauspielerin und stehst kurz vor deinem Auftritt. Je mehr du dich um die Kritik an deiner Leistung sorgst, desto weniger konzentriert bist du auf das eigentliche Schauspiel. Da ist es egal, ob du dich vor deinem eigenen Urteil oder dem des Publikums fürchtest: Das Lampenfieber macht dich verkopft und steif.


Wenn du richtig aufgeregt bist, spielst du sogar mit Absicht unter deinem Niveau. So kannst du die anschließende Selbstkritik leichter abwehren: Die schlechte Performance spiegelt dann ja ganz offensichtlich nicht wieder, wozu du wirklich fähig bist. Die Psychologie bezeichnet das als als Self-Handicapping (https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/self-handicapping/14050).

Du sabotierst deine Leistung vorsätzlich, um dein Ich vor Kritik zu schützen.


Das Phänomen ist eng verknüpft mit einer anderen, weitaus bekannteren Strategie: Die Prokrastination. Du vermeidest die gefürchtete Selbstkritik einfach, indem du die zu bewertende Tätigkeit aufschiebst. Doch je länger du prokrastinierst, desto länger hängt die bevorstehende Schelte wie ein Damoklesschwert über deinem Selbstwert.


Kurzum: Die Nachteile der Selbstkritik wiegen deutlich schwerer als die Vorteile. Dabei haben wir noch nicht einmal über die langfristigen Folgen überzogener Selbstkritik gesprochen.


 

Quick Note: Studien zeigen, dass sich selbstkritische Menschen häufiger selbst daran hindern, ihre Ziele zu erreichen.

 

Harsche Selbstkritik ist eine Form von Missbrauch, die schwere Langzeitfolgen haben kann.




Nehmen wir mal an, du und deine beste Freundin spaziert im Winter auf einem glatten Gehweg. Auf einmal rutscht sie aus und stürzt. Wie würdest du reagieren?

Du würdest dich sicher nicht mit verschränkten Armen über sie beugen und sagen: “Was bist du doch für ein nichtsnutziger Trottel. Du kannst ja nicht mal richtig gehen.”

Warum nicht?

Weil es eine unfreundliche, unangebrachte und unnütze Reaktion auf das Missgeschick eines Menschen wäre. Das Schlimme ist, dass die besonders selbstkritischen unter uns genauso auf ihre Fehltritte reagieren.


Und jetzt stell dir vor, du würdest derart wirsch mit jemandem umgehen, der sich deine Worte besonders zu Herzen nimmt – zum Beispiel ein Kind.


Dann würden wir ohne Zweifel von Missbrauch emotionaler Gewalt sprechen. 


Diese Gedankenspiele zeigen, dass Selbstkritik nicht einfach nur kontraproduktiv ist. Sie ist eine Form von Selbstmissbrauch.


Wie würde ein Kind darauf reagieren, dass es immer und immer wieder als dumm oder nutzlos bezeichnet wird? Die vernichtenden Urteile würden früher oder später seinen Willen brechen. Sie würden sein Selbstwertgefühl erschüttern und es in einen Zustand konstanter Versagensangst versetzen.


Dasselbe gilt für uns Erwachsene! Kein Ego hält der chronischen Abwertung stand. Du findest, das klingt nach den perfekten Voraussetzungen für die Entstehung von Depressionen, Angstzuständen und einer generellen Unzufriedenheit im Leben? Dann liegst du völlig richtig!


Die Forschung zeigt, dass Selbstkritik auf Dauer alle diese psychischen Probleme verursacht.

Sie lässt uns außerdem an unserer Selbstwirksamkeit zweifeln. Sie erschüttert unseren Glauben an unsere Fähigkeit, unsere Pläne umzusetzen. Diverse Studien zeigen, dass gerade dieser Glaube in direkter Relation zu unserer tatsächlichen Fähigkeit steht, persönliche Ziele im Leben zu erreichen. Es klingt nach einem Klischee, aber es stimmt: Je mehr du an dich glaubst, desto eher erreichst du deine Ziele.


Hinzu kommen die unmittelbaren Effekte der Selbstkritik, wie vorhin beschrieben:

Die lampenfiebrige Versagensangst, die angespannte Zerstreutheit und die Neigung zu Prokrastination und Selbstsabotage.

All diese Versatzstücke fügen sich zu einem klaren und unheilvollen Bild zusammen. Nicht nur, dass überzogene Selbstkritik zu schweren gesundheitlichen Problemen führen kann – sie untergräbt auch unsere Fähigkeit, uns weiterzuentwickeln.


Sie ist also das genaue Gegenteil der motivierenden Kraft, für die sie manche Menschen halten.


 

Quick Note: Interkulturelle Studien zeigen, dass Selbstkritik und die Tendenz zu Unzufriedenheit und Depressionen stark korrelieren.

 

Selbstmitgefühl ist die gesunde und konstruktive Alternative zur Selbstkritik.




Selbstkritik ist also ungesund. Was wäre dann die Alternative? Für diese Frage begeben wir uns in Gedanken zurück zu dem gefrorenen Gehweg. Wie würdest du wirklich reagieren, wenn eine gute Freundin auf dem Eis zu Boden ginge?


Du würdest vermutlich zu Hilfe eilen und dich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. “Alles okay? Hast du dir wehgetan?”. Du würdest ihr auf die Beine helfen. Mit anderen Worten: Du würdest ihr dein ehrliches Mitgefühl vermitteln.


Wenn du nun genauso mit deinen eigenen Missgeschicken und Makeln umgehst, legst du Selbstmitgefühl an den Tag. So wird der Gedanke des Mitgefühls für andere Menschen zur nützlichen Blaupause für den Selbstbezug.

Aber sehen wir uns das genauer an. Wie entwickelst du ein neues Selbstmitgefühl?


Zurück zu unserem Beispiel:


Wenn ein guter Freund stürzt, vermittelst du ihm zuerst, dass du dir seines Missgeschicks bewusst bist. Du signalisierst deine Sorge um mögliche Schmerzen oder Verletzungen. Du fragst, ob alles in Ordnung ist.


Auch das Selbstmitgefühl beginnt mit einer Geste der Achtsamkeit. Du gestehst dir zunächst ein, dass du ein Problem hast oder unter etwas leidest. Das klingt so einfach, aber für westlich geprägte Menschen ist das keine Selbstverständlichkeit. 


Wir bekommen von klein auf eingebläut, dass wir nur durch Härte im Leben bestehen.

“Sei stark!” “Halte die Ohren steif!” “Was dich nicht umbringt, macht dich stärker”

Also beißen wir die Zähne zusammen, wenn uns etwas wehtut.

Diesem antrainierten Impuls musst du zunächst entgegenwirken. Frage dich stattdessen, wie es dir jetzt gerade in diesem Moment geht. Bist du nervös oder traurig, weil du dich in einer schwierigen Situation befindest? Bist du frustriert oder sauer auf dich, weil du einen Fehler begangen hast oder deinem Selbstanspruch nicht gerecht wurdest?


Was du auch fühlst - gestehe dir deine Emotionen ein. Mach dir bewusst, was du wirklich empfindest. Sei achtsam mit dir selbst. Dieses Eingeständnis deines Gefühlszustandes ist die wichtigste Voraussetzung für einen liebevollen und fürsorglichen Umgang mit deinem Problem.


Wie das genau funktioniert? Ließ gerne weiter.



 

Selbstmitgefühl heißt, das Konzept von Stärke neu zu denken. 




Wie legst du im Umgang mit dir selbst mehr Liebe und Fürsorge an den Tag?

Denke einfach daran, wie du sie anderen Menschen gegenüber ausdrückst. Wie verhältst du dich, um eine geliebte Person in einer schwierigen Situation zu unterstützen?


Umarmung, Trost, Nähe und Mitgefühl

Das variiert natürlich je nach Schwere der Lage, aber meistens beginnst du mit Anteilnahme und Trost. Du sagst Dinge wie: “Es tut mir leid, dass du dich so fühlst.”


Oft begleitest du die Worte mit einer zärtlichen Geste: Einer Umarmung, einem Streicheln oder einer Hand auf der Schulter.


Jetzt schellen bei dir womöglich die Alarmglocken. Du denkst vielleicht: “Und jetzt? Soll ich mich im Spiegel trösten oder am Ende sogar selbst umarmen???”


Die Antwort lautet schlichtweg: Ja! 


Warum denn nicht?


Deine Skepsis hat einen einfachen Grund und fußt erneut auf unseren westlichen Werten. Wir sollen von klein auf die Zähne zusammenbeißen. Wir sind es gewohnt Schmerz zu unterdrücken. Da hilft es nicht, dass wir im Falle der Selbstkritik selbst an unseren Leiden Schuld sind.


In unserer Gesellschaft hat man sein Schicksal nämlich “selbst in der Hand”.

Das heißt: Wenn wir versagen, können wir sonst niemandem die Schuld geben.

Diese Überzeugung verstärkt die Härte unserer Selbstkritik.  Wenn wir mit uns selbst ins Gericht gehen, steht der Schuldige schon längst fest. Da gibt es keinen Platz für Empathie. Im Gegenteil: Wir denken womöglich sogar, dass wir unser Leid “verdient haben”.


Kein Wunder also, dass es uns da lächerlich vorkommt, uns selbst zu trösten. Aber sieh es mal so: Dein Körper weiß nicht, dass er sich nicht selbst umarmen darf. Es ist ihm quasi egal. Und die Wissenschaft weiß, dass eine Umarmung zur Ausschüttung von Oxytocin führt - dem sogenannten Glückshormon, das Gefühle wie Ruhe und Geborgenheit verstärkt.


Warum solltest du dich also nicht umarmen, wenn du das nächste Mal traurig oder nervös bist?


Na gut, das ist vielleicht trotzdem nicht deins.


Dann könntest du es auch mit ein paar tröstenden Worten versuchen. Du könntest verständnisvoll Anteil nehmen und sagen: “Du Armer, das ist eine ganz schön schwere Zeit.”

Selbst dieser Gedanke erscheint dir irgendwie lächerlich? Keine Angst, das geht sicher vielen von uns im Westen so. Aber jetzt zu dem Punkt, den ich dir dadurch klar machen möchte:


Wir sollten mal darüber nachdenken, was das über unser Verhältnis zu unserem Selbst aussagt.


 

Quick Note: Die Forschung beschreibt Selbstmitgefühl als potenten Auslöser von Oxytocin, das die Symptome für Stress und Aufregung deutlich verringert.

 

Selbstmitgefühl bedeutet, Abstand zwischen dich und dein Leid zu bringen.




Die Sache mit dem Selbstmitgefühl kommt dir immer noch ein bisschen komisch vor? Dafür gibt es einen weiteren Grund. Das Konzept erscheint dir vermutlich ein Stück weit “esoterisch”.


Sich selbst zu umarmen oder zu trösten erfordert eine gewisse Zweiteilung. Du vereinst dabei zwei Rollen, die sonst von zwei unterschiedlichen Personen erfüllt werden: Die umsorgende und die umsorgte Person.


Du bist es gewohnt, nur eine der beiden Rollen zu bekleiden. Entweder wirst du getröstet oder du tröstest.

In gewisser Weise spaltest du deine Persönlichkeit immer in zwei Teile. Einer dieser beiden Teile leidet und wünscht sich Trost. Gleichzeitig gibt es einen Teil in dir, der mit dir mitfühlt und sich um dich kümmert. Dieser zweite Teil deiner Persönlichkeit steht ein Stück weit außerhalb deines Leids. Er nimmt Abstand zu deinem Schmerz, um sich zu sorgen und dich zu trösten.


Das ist eine wichtige Erkenntnis! Ließ es gerne nochmal. 


Dein Selbstmitgefühl führt dazu, dass dich dein Leid nicht mehr restlos einnimmt.


Du bringst ein wenig Distanz zwischen dich und deinen Schmerz. Damit sendest du dir selbst eine ermutigende Botschaft: “Ja, ich leide. Aber ich bin mehr als dieses Leid. Ich bestehe aus der Achtsamkeit und Anteilnahme, die ich mir hiermit selbst entgegenbringe. Ich bin nicht nur liebebedürftig - ich kann auch Liebe geben.”


Verbinde diesen Gedanken mit weiteren Übungen aus dem Bereich der Achtsamkeit, zum Beispiel der urteilsfreien Beobachtung.


Wenn du ein Gefühl annimmst, kannst du es beobachten. Du kannst das Gefühl beschreiben, ohne es zu bewerten. Als würdest du einen Schritt zurücktreten und sagen: “So fühlt sich mein Gefühl also an. Es ist ein Gefühl und Gefühle kommen und gehen. Es bestimmt nicht meine gesamte Realität.”


Das mag tatsächlich etwas esoterisch klingen, hat aber ganz praktische Vorteile. Wenn dich ein Gefühl komplett einnimmt, bist du ihm wehrlos ausgeliefert. Du hast keinen Platz, um deine Situation aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Wenn dich eine Emotion wie Stress überwältigt, überträgt sie sich auf alle Bereiche deiner Wahrnehmung und du siehst keinen Ausweg.


Achtsamkeit hilft dir, Abstand zwischen dich und deine Gefühle zu bringen. Sie gibt dir einen Teil deiner Handlungsfähigkeit zurück. Du nimmst deine Gefühle an, anstatt dich von ihnen überwältigen zu lassen. Das wiederum gibt dir die Möglichkeit, die Ursache deines Problems wahrzunehmen und zu lösen.


 

Apropos Achtsamkeit: Du hast jetzt schon einiges über das Selbstmitgefühl gelesen. Wenn dich der Punkt Achtsamkeit in Kombination mit Mitgefühl interessiert, beantworte mir gerne zwei Fragen: https://forms.gle/AV7HLoKdbnduC8496  (dauert auch nur eine Minute – Versprochen)

 

Ein Gespür für unser gemeinsames Menschsein stärkt unser Selbstmitgefühl.




Angenommen du fürchtest dich davor, vor anderen Menschen zu sprechen. Wenn dich diese Angst einnimmt, kommt es dir vor, als wärst du die einzige Person mit diesem Problem. Du denkst womöglich: “Alle bringen es fertig, vor anderen zu sprechen. Warum ich nicht? Was stimmt nicht mit mir?”


Jetzt stell dir vor, irgendwann gesteht dir jemand genau dasselbe Problem. Er sagt: “Ich glaube, so gut wie jeder Mensch wird nervös, wenn er vor anderen sprechen muss. Die Redeangst gehölrt zu den meistverbreiteten Phobien der Welt.” Was bedeutet das für dich?


Es bedeutet, dass du nicht alleine bist.

Deine Redeangst ist Teil deines Menschseins – und Teil des Menschseins unzähliger anderer Menschen auf der Welt. Was würde diese Erkenntnis in dir auslösen? Sie würde dich mit Sicherheit ungemein erleichtern.


Wir haben gesehen, wie schnell wir uns von unseren Ängsten und Sorgen dominieren lassen. Dann verengt sich unsere Wahrnehmung brennpunktartig auf unser Problem, bis wir gar nichts anderes mehr sehen. Dabei vergessen wir, was uns eigentlich klar ist: dass Tausende Menschen tagtäglich schmerzhafte Erfahrungen machen. Trotzdem fühlen wir uns mit unserem Schicksal allein. Und diese Einsamkeit verstärkt das Leid.


Das heißt aber umgekehrt, dass es tröstet, sich an die Gemeinsamkeit menschlicher Erfahrungen zu erinnern. Und nicht nur das. Das Bewusstsein für unser gemeinsames Menschsein ist ein wirksames Mittel gegen die überzogenen Erwartungen, die an der Wurzel aller Minderwertigkeitsgefühle sitzen.


Wir sind alle nur Menschen und auch die Menschen, zu denen wir Aufsehen, werden ihre Probleme haben. Wir haben alle Makel. Wir machen alle Fehler und wir erleiden alle Rückschläge.


Das heißt nicht, dass du nicht aus deinen Fehlern und Rückschlägen lernen sollst. Es bedeutet nur, dass es irrational ist, sich ihretwegen zu bestrafen.

Sie sind ein Teil von dir, sowohl als Mensch, als auch als Individuum.


Selbstmitgefühl bedeutet nicht, dass du dich von jetzt an nur noch mit Samthandschuhen anfasst. Es ist die Grundlage für einen ehrlichen und pragmatischen Umgang mit dir selbst.


 

Selbstmitgefühl gibt dir die Kraft, Probleme pragmatisch zu lösen.




Klar ist das alles leichter gesagt als getan. Kein antrainiertes Verhaltensmuster lässt sich von heute auf morgen ablegen. Es gibt keinen Schalter, mit dem du deinen inneren Kritiker wie eine lästige Radiostimme ausknipst.


Anfangs wird es womöglich sogar eher schlimmer. Es kann passieren, dass dein selbstkritisches Ich immer wieder unerwartet in dein neues Selbstmitgefühl hineinplatzt. Dann geißelst du dich sofort für dein vermeintliches Versagen: “Und schon wieder bist du selbstkritisch. Hör auf damit! Sei milder und achtsamer!”. Bei dem Spiel kannst du nur verlieren.

Du kritisierst dich dafür, dass du so hart zu dir bist, weil du nicht sanfter mit dir umgehst.


Wie durchbrichst du diesen Teufelskreis? Das Geheimnis besteht darin, deinen inneren Kritiker an die Hand zu nehmen. Du arbeitest nicht gegen ihn, sondern mit ihm.


Stell dir vor, du arbeitest zu Hause an einem Projekt. Du legst eine Kaffeepause ein und gehst in die Küche. Dein Blick fällt auf den Stapel schmutzigen Geschirrs in der Spüle. Du hast den Abwasch schon wieder vergessen.


Nutze deine neue, gewonnene Achtsamkeit, um deiner inneren Stimme zu lauschen. Eingefleischte Selbstkritiker merken gar nicht mehr, dass sie sich selbst kritisieren. Also achte auf deine Worte. Sie alleine zu bemerken hilft. Sind sie selbstkritisch? Sind sie streng? Oder abwertend? 


Hör auf dich für solche Sachen zu bestrafen. Überlege stattdessen, welche unerfüllten Bedürfnisse der Schelte zugrunde liegen. Vielleicht bist du von dir selbst genervt, weil du eigentlich Ordnung brauchst, um dich zu konzentrieren.


Frage dich: “Was könnte ich oder jemand anderes tun, um dieses ungestillte Bedürfnis zu erfüllen?” Das führt zu Lösungsansätzen.

Du kannst eine Pause einlegen, um die Küche aufzuräumen. Du kannst deinen Partner oder deine Mitbewohner bitten, dir zu helfen.


Dieser Ansatz hilft dir einfühlsamer und konstruktiver mit dir selbst zu sprechen. Du kannst dir sagen: “Ich weiß, dass du genervt und frustriert bist. Ich weiß, dass dich die Selbstkritik zur Ordnung motivieren soll. Sie ist aber kontraproduktiv. Warum legst du nicht eine kurze Pause ein und erledigst den Abwasch? So löst du das Problem mit der Unruhe und konzentrierst dich besser auf deine Arbeit.”


Merkst du was? Dein Selbstmitgefühl ist keine Bauchpinselei. Sie ist kein Freischein.  Im Gegenteil. Sie hilft dir deine Probleme entschlossen anzugehen, statt dich ständig für sie zu geißeln. Sie befähigt zu mehr Wärme und mehr pragmatischer Entschlossenheit im Umgang mit dir selbst. 


 

Was möchte ich dir zusammengefasst sagen?


Selbstkritik und Minderwertigkeitsgefühle sind eine Folge frühkindlicher Erfahrungen. Wer als Kind ständig kritisiert wird und unter hohem sozialen Leistungsdruck steht, beginnt hart mit sich ins Gericht zu gehen, um den Abwertungen seines Umfelds zu entgehen. Auf lange Sicht führt harsche Selbstkritik aber zu einem ungesunden und zerstörerischem Selbstbezug. Stattdessen sollten wir uns in Mitgefühl üben: Wenn wir unsere Probleme und Sorgen achtsam anerkennen, bekommen wir die Möglichkeit, uns konstruktiv um unsere Bedürfnisse zu kümmern.




Was kannst du konkret machen?


Akzeptiere dich so, wie du bist.

Wir haben gesehen, dass dir Selbstmitgefühl hilft, dich zu deinen Schwächen und Makeln zu bekennen. Das ist die beste Grundlage für die Entwicklung eines ganzheitlichen Selbstbildes, das auch deine Stärken einschließt. Dabei hilft dir folgende Übung:

Lege drei Listen mit jeweils fünf Eigenschaften an.

Die erste steht für Dinge, in denen du dich als unterdurchschnittlich empfindest, die mittlere für durchschnittliche Fähigkeiten und die dritte für Bereiche, in denen du dich über dem Durchschnitt verortest.

Das erinnert dich daran, dass du nicht nur aus Problemen und Sorgen bestehst, sondern auch aus bemerkenswerten und einzigartigen Talenten.


Noch ein letzter Geheimtipp?


Behandle dich immer wie einen guten Freund. Sei ehrlich zu dir, nimm dich auch gerne mal auf den Arm, aber sei liebevoll für dich da. Immer





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